Holzminden (mk). Am vergangenen Dienstagnachmittag zog ein hochbrisantes, immer noch zum Teil Tabu-Thema, die Menschen aus Holzminden und dem angrenzenden Landkreis Höxter in den Energy Campus - Stiebel Eltron. 155 interessierte Teilnehmer fanden sich zu dem komplett ausgebuchten Vortrag „Im Spannungsfeld: Häusliche Gewalt und Kindeswohl“ ein, um in eine anschließende Podiumsdiskussion zu gehen. Auf Initiative der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Holzminden, Frau Sigrun Brünig, und der Vertreterin der Netzwerkkoordination „Frühe Hilfen“, Frau Christine Brennecke, luden diese beiden wichtigen Netzwerke in Kooperation mit der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes und den Gewalt-Beratungsstellen des deutschen Kinderschutzbundes Holzminden, vertreten durch Frau Anita Hummel und Frau Esma Vurgun, zu einem Thema ein, das sich durch alle Schichten unserer Gesellschaft zieht und tiefe Narben setzt. Ein trauriges Resümee, das bei dem extrem aufwühlenden und berührenden Vortrag des Gastdozenten Herrn Dr. Wilfried Kratzsch von der Stiftung deutsches Forum Kinderschutz deutlich mit Zahlen demonstriert wurde.

Erschreckende Zahlen – Ergebnis purer Angst!

Der ehemalige leitende Oberarzt des kinderneurologischen Zentrums „Sana Klinikum Düsseldorf“ und Vorsitzender der Stiftung deutsches Forum Kinderzukunft, erzählte von schockierenden Fällen aus seiner damaligen Kliniktätigkeit und gab Einblicke in erschütternde Familienereignisse – Ereignisse, die niemals hätten passieren dürfen! Aber nicht nur das, er belegte auch anhand erschreckender Zahlen, dass häusliche Gewalt jede zweite Frau in ihrem Leben trifft und schilderte, dass damit nicht nur die ausschließliche sexuelle und körperliche Gewalt gemeint wäre, sondern dass im Besonderen extrem schwere psychische, zum Teil auch dauerhaft bleibende Beschwerden durch diese Taten hervorgerufen werden. Meist beginnen die ersten Konflikte schon sehr früh in der Partnerschaft und kommen zum Ausbruch durch die erste gemeinsame Wohnung oder eine ungewollte Schwangerschaft.

Zudem trifft in Fällen von häuslicher Gewalt, in denen auch Kinder involviert sind, diese in einer nicht zu unterschätzende Weise – meist ein Leben lang, wie Dr. Wilfried Kratzsch in seiner Dokumentation der Stiftung deutsches Forum Kinderschutz eindrucksvoll aber für alle Teilnehmer sichtlich schockierend präsentierte. Grundlage war dazu eine Befragung von Paarbeziehungen durch die Niedersächsische LKA kriminologische Forschung bei 14.241 Personen landesweit unter Berücksichtigung eines Alters von 16 bis 91 Jahren und beider Geschlechter.

Gefährdetes Kindeswohl- bereits im Mutterleib durch Spüren und Hören!

Die Statistik von 2014 zeigt zu den Vorfällen in der Partnerschaftsgewalt auch die damit einhergehenden Folgeerscheinungen auf und die geben durchaus Anlass zur Sorge. Denn Kinder, die bereits im Mutterleib durch häusliche Gewalt betroffen waren oder im Kleinstkind-Alter durch Ohren und Augen Zeuge von Gewalt gegen die Mutter miterleben mussten, sind dadurch weitaus mehr gefährdeter als bisher angenommen wurde. Somit stellt häusliche Gewalt einen extrem hohen Faktor des Risikos mit einer schweren psychischen und körperlichen Gewalt für die Entwicklung von Kindern dar und dessen Ausmaß an Folgen auf jeden Fall nicht zu unterschätzen sind, die da wären Alkoholmissbrauch oder Suizid.

Familiäre Gewalt heißt Gewalt an Frauen UND Kindern!

Durch die niedersächsische kriminologische Forschung ist mittlerweile bewusst geworden, dass je mehr Faktoren einer Risikogruppe vorliegen, umso länger die Leiden andauern und das Suchen nach Lösungen der betroffenen Opfer bei Hilfestellen mehr und mehr werden. Ein fast schier unglaublicher Teufelskreis der Opfer aus ihren Leiden beginnend von Depressionen, Ängsten, Panik-Attacken, Schlaf-, Kopf- und Magen-Darm-Schmerzen oder schweren körperlichen Verletzungen. Es ist schwer zu sagen was mehr wiegt, die körperliche oder die psychische Gewalt.  Die immer wieder kommenden Flashbacks an das mit Angst behaftete Erlebte für die Opfer und das nicht Wegrennen können, weil die Qualen im Kopf und in der Seele stattfinden. Und mit dem hoffnungslosen Wunsch nach der „Reset-Taste“ verbunden sind, um noch einmal von vorne ein neues Leben zu beginnen.

Narben an Körper und Seele – ein ganzes Leben!

Dr. Wilfried Kratzsch verwies eindringlich auf die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Kinder, beginnend von einer Frühgeburt, neurologischen Auffälligkeiten im Säuglingsalter und sogar Depressionen, Ängsten und sozialer Isolation bis weithin zu einer Wiederholung; die mitunter in die nächste Generation führen kann. Erschreckend verwies er auf die Zahlen der Frauen, die in Deutschland mit ihren Kindern in ein Frauenhaus fliehen: jährlich circa 45.000! Für Niedersachsen waren es im Jahr 2007 an die 2400 Frauen mit 2200 Kindern, die in den 40 Frauenhäusern Schutz suchten. Jedoch sind die Frauenhäuser längst überfüllt!

Eine Hilfe für alle Betroffenen im Kreislauf durch Austausch beginnen!

Ein aktuelles Netzwerk zur Intervention von häuslicher Gewalt gebildet von Polizei, Frauenberatungs- und Interventionsstellen zudem Jugendhilfen, Schwangerenkonflikt-Beratungsstellen und die Rechtsmedizin sollen frühe Hilfen bieten und einen Schritt aus dem hochbrisanten Zentrum der „unschönen Familie“ werden können, so der Wunsch Dr. Wilfried Kratzsch. In Holzminden wäre diese gute Vernetzung bereits vorhanden, so Dr. Kratzsch, ganz anders als im Ruhrgebiet, stellte er bereits bei ersten Kontakten zum Seminarort fest. Was hier alles zustande gekommen sei, fände er toll und werde dieses mit nach Düsseldorf als Anstoß für neue Möglichkeiten nehmen. Und die Zahlen bestätigen ihn soweit, dass im direkten Vergleich zu Düsseldorf und Solingen hier im Landkreis weitaus mehr Fälle von häuslicher Gewalt offen werden. Bemerkenswert, wie er findet, dass nicht die Polizei zum Einsatz kommt, sondern aus dem Opferbereich selber der Hilferuf kommt. Ein positives Ergebnis der Netzwerkarbeit, wobei er zu verstehen gibt, dass diese noch immer noch nicht genug ist.

Ein verdammt gutes Netzwerk im Kampf gegen häusliche Gewalt schaffen!

Auch im Gesundheitswesen wäre es für die Opfer von enormer Wichtigkeit erste Ansprechpartner zu finden, die sich von der allgemeinen Arztpraxis, Kinder- bis zur Frauenklinik entwickeln dürfen. Es bezieht sich dabei auch nicht nur auf den zu behandelnden Arzt, sondern spricht an, dem gesamten Praxisteam zuzuhören, genauer hinzusehen und eine Hand zum Ausstieg oder wenigstens einer Dokumentation des Geschehenen zu sein. In Holzminden kann das im AGAPLESION Evangelisches Krankenhaus sein, wie der anwesende Chefarzt der Frauenklinik Dr. med. Henning Grastorf mitteilen konnte. Unter der sicheren Gewährleistung der Schweigepflicht können Gewaltopfer verwertbare Spuren als eventuelles Gerichtsmaterial sicherstellen und erste Kontakte zu Opferstützpunkten anbahnen.

Im Anschluss des Vortrages von Dr. Wilfried Kratzsch gingen Vertreter aus den verschiedenen Institutionen vor Ort ins Gespräch. Letztendlich stand bei allen Teilnehmern jener Podiumsdiskussion des Abends ganz klar fest, dass sowohl an wie auch in eine optimalere Zusammenarbeit verstärkt gearbeitet werden solle und müsse zu einer besseren Vernetzung, damit alle Kinder einen guten Start ins Leben haben!