Holzminden (haa). Ein SPD-Antrag, der im vergangenen Jahr im Stadtrat beschlossen wurde, stellte die Weichen für die aktuelle Aktionswoche gegen Queerfeindlichkeit in Holzminden. Im Familien- und Kulturzentrum „Drehscheibe“ drehte sich am vergangenen Dienstag alles um Austausch, Aufklärung und Sensibilisierung.
Begegnung bei Kaffee, Film und Diskussion
Bereits bei der offiziellen Begrüßung mit Kaffee und Kuchen hatten Besucher*innen Gelegenheit, sich in entspannter Atmosphäre zu vernetzen. Um 15:30 Uhr wurde ein Dokumentarfilm gezeigt, der durch seine emotionale Tiefe und persönliche Geschichte bewegte. Im Mittelpunkt stand Dani Kluth, eine nichtbinäre Person, die offen und eindrucksvoll ihre Lebensrealität teilte.
Die im Publikum ausgelösten Emotionen und Fragen fanden anschließend Raum: Bei einer Podiumsdiskussion konnten Eindrücke geteilt und Perspektiven vertieft werden. Fünf engagierte Personen aus dem Weserbergland berichteten von ihren Erfahrungen mit Queerfeindlichkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Persönliche Geschichten: Von Berlin zurück ins Weserbergland
Hanna Schlubeck hieß früher Matthias und konnte sich nie mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. „Es ist keine Entscheidung, die man trifft. Es ist ein Gefühl“, beschreibt sie. Ihren Weg zu einem Leben als Hanna begann sie 2022 – während der Corona-Pandemie. Hanna zog für diesen Schritt zunächst nach Berlin, lebt heute aber wieder in ihrer alten Heimat im Weserbergland.
Auch Dani stammt aus der Region – aus Heinsen – und zog später ebenfalls in die Hauptstadt. Als nichtbinäre Person war sier häufig Diskriminierung ausgesetzt. Sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen, stößt bei vielen Menschen auf Unverständnis – ein freies Leben wird so zur Herausforderung.
Beratung, Bildung und Vermittlung
Sabrina Sauer arbeitet bei der Beratungsstelle von pro familia, einer Organisation, die Menschen in allen Lebensphasen begleitet – insbesondere in Fragen zu Sexualität, Beziehungen und Familienplanung. „Wir stehen für ein selbstbestimmtes Leben – in jedem Bereich“, betont Sauer. Schulen wenden sich oft an pro familia, um Aufklärungsarbeit in den Unterricht zu integrieren. Auch in der täglichen Beratungspraxis spielt Vielfalt eine zentrale Rolle: „Ich höre zu – und übernehme, wenn nötig, eine vermittelnde Rolle zwischen den Beteiligten.“
Auch die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus betont: Gemeinsame Gespräche sind der wirksamste Ansatz. Queerfeindlichkeit wird als Ausdruck rechten Gedankenguts verstanden. Um dem etwas entgegenzusetzen, müsse sich die Gesellschaft als Ganzes mit vielfältigen Lebensrealitäten auseinandersetzen. Von Statistiken über queerfeindliche Gewalttaten hält das Team wenig – im Mittelpunkt steht der Mensch hinter jeder einzelnen Geschichte. „Zahlen spiegeln nicht die Bedeutsamkeit der Aufklärungsarbeit wider. Dahinter steckt mehr.“ Auch die heterogene Gesellschaft habe den Auftrag, sich aktiv mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen.
Studenten als Impulsgeber
Prof. Dr. Julian Sehmer leitet an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) den Kurs „Normative Rahmungen Sozialer Arbeit“. Gemeinsam mit seinen Studierenden engagiert er sich für einen offenen Austausch über Queerness und Rechtsextremismus. „Wir müssen das Thema breit diskutieren“, betont Sehmer. Dabei gehe die Initiative oft von den Studierenden selbst aus.
Ein Beispiel: eine partizipative Lesung, bei der alle Teilnehmenden Texte einbrachten – von historischen Dokumenten über zeitgenössische Literatur bis hin zu eigenen Gedichten. Diese wurden gemeinsam gelesen und diskutiert. Eine klare Botschaft aus der Runde lautete: „Solidarität sollte das ganze Jahr über gelebt werden – nicht nur im Pride Month.“
Stadt und Land: Zwei Lebensrealitäten
Auch die Unterschiede zwischen queerem Leben in Stadt und Land wurden thematisiert. Dani und Hannah kennen beide Lebensrealitäten. „In der Großstadt sind die Leute meistens freundlicher. Ab und zu lächeln sie einen an, wenn man sich auf dem Bürgersteig begegnet. Aber es gibt auch Gruppen, die uns nichts Gutes wollen. Sie sind aggressiver“, erklärt Dani.
Hannah ergänzt: „Es ist die Anonymität in der Stadt. Du kennst die Menschen nicht, weißt nicht, wie sie dir gegenüber eingestellt sind.“ Auf dem Land seien die Reaktionen meist neutral, jedoch fehle dort oft auch der Zuspruch, den queere Menschen in der Stadt erfahren.
Gesellschaftlicher Rückschritt?
Politisch beobachteten viele Beteiligte einen aktuellen „Roll-Back“ – also eine Rückentwicklung gesellschaftlicher Errungenschaften. Mit der amtierenden Bundesregierung sei keine spürbare Weiterentwicklung beim Schutz queerer Rechte zu erwarten. Gleichzeitig dürften gesellschaftliche Probleme nicht auf Minderheiten projiziert werden – solche Schuldzuweisungen dienten oft nur der Mobilisierung gegen ohnehin diskriminierte Gruppen. Narrative und Klischees müssten hinterfragt werden.
Gegen Empathielosigkeit: Zuhören, Fragen zulassen, Haltung zeigen
„Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie“, sagte Tech-Milliardär Elon Musk – ein Zitat, das Hannah entschieden zurückweist. Für sie ist Empathie unverzichtbar für ein gutes Miteinander. „Rückhalt aus der Gemeinschaft ist sehr wichtig. Dass auch mal jemand bei queerfeindlichen Aussagen aufsteht und sagt: Du sprichst nicht für uns alle.“
Begegnung und Dialog seien essenziell – und dabei müsse vor allem eines erlaubt sein: Fragen zu stellen. Denn nur so könne Aufklärung gelingen. „Wir sollten Präsenz zeigen“, fordert Hannah. Dennoch dürfe die Aufklärungsarbeit nicht allein an den Betroffenen hängenbleiben – das sei auch die Aufgabe von Behörden und Institutionen.
„Es ist wichtig, dass es Veranstaltungen wie diese gibt. Die Menschen brauchen Anlaufstellen – Angebote, um dieses diffuse, unwohle Gefühl in sich zu hinterfragen und einzuordnen“, betont Dani.
Ein Zeichen für Vielfalt in Holzminden
Auch Bürgermeister Belke war bei der Veranstaltung vor Ort und setzte damit ein klares Zeichen für Vielfalt im Weserbergland. Das Familien- und Kulturzentrum „Drehscheibe“ trug mit seinem Engagement wesentlich zur Aktionswoche bei.
Am morgigen Freitag, 27. Juni, um 18 Uhr lädt Bündnis 90/Die Grünen Holzminden zu einem Vortrag in ihre Geschäftsstelle in der Oberen Straße 42 ein. Der Titel der Veranstaltung lautet: „Queeres Leben unter Druck! Wie umgehen mit dem Rechtsdruck – Wie geht es weiter in der Queerpolitik?“. Referent ist Detlev Schul-Hendel, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Niedersächsischen Landtag.
Am 30. Juni folgt eine Filmvorführung: Gezeigt wird „Sopiro“, eine Produktion des Rosa Strippe e. V. Im Anschluss findet eine offene Diskussion statt. Veranstaltungsort ist das Weserberglandforum der HAWK, Beginn ist um 17 Uhr.